Im Weichenstellwerk des Lebens. Oder:
Es gibt immer Momente, in denen man sich falsch entscheidet.
Es gibt Tage, da packt das Trübsal zu, und ich spaziere stundenlang über einen alten Rangierbahnhof und verstelle die handbetriebenen Weichen. Dann brüte ich, stelle ich nun nach links oder nach rechts und welcher Weg führt wohin im Leben, was ist nun richtig oder nun falsch, welche Weichenstellung führt ins Glück oder Unglück und genaugenommen, wo geht die Reise hin oder wo kommt sie her. Was ist das Ziel, gibt‘s je ein Ziel und wer hat mich warum gestartet?
Das ganze Leben besteht aus Weichenstellungen und ziemlich häufig sind sie falsch. Im Zentrum meiner Grübeleien steht dabei stets das einzig wahre existentialistische Problem:
Weshalb eigentlich haben mich meine Eltern in was für einer Laune und welcher Umgebung am Soundsovielten neun Monate vor meiner Geburt in die Welt gesetzt, hat der eine die andere bedrängt, verfuhrt oder umgekehrt, hatte sie·ihre Pille vergessen oder war sein Kondom geplatzt, war‘s wenigstens Liebe, geplant oder im Suff, vor allem aber, welcher Zufall hat sie wo auch immer zusammengeführt und warum wurde lch daraus und wäre lch das Ergebnis auch, hätte eine andere Samenzelle als ich damals, das Rennen zum Mutterei gewonnen? Was wäre, wäre alles nur eine Minute vorher passiert oder einen Tag später? Sind an einem Tag alle Samenzellen so und am anderen anders? Hatte es einen Einfluss, ob meine Mutter vorher Kartoffelbrei aB, Schmalzbrot, Gurken oder Spinat? Wer hatte sonst das Rennen gemacht, lch oder lchnicht und was wäre dann aus mir geworden? Ein ganz anderer Mensch – aber mit meinen Gedanken? Oder wäre meine Chance restlos verspielt, hatten nicht meine Eltern just in dieser entscheidenden Sekunde damals hoffentlich ihr Vergnügen gehabt?
Stolz,-entscheide ich mich in der Regel, dass ich ein fleischgewordener Zufall bin, sage bätsch zu den Samenzellen, die ich damals weit hinter mir ließ und auf die ich andernfalls eifersüchtig gewesen wäre und sinniere weiter. Wer ist dann schuld, dass es mir heute dreckig geht und morgen high? Dass ich mich pausenlos für irgendwas und irgendwen entscheide oder dagegen, für diesen Weg oder jenen und welcher neue folgt daraus? Und wer entscheidet, dass mir die da, der da oder die da begegnet, ich mal lacheund mich traue die da anzusprechen und die anderen nicht? Und dass die da auch was sagt und nicht beleidigt ist und überhaupt: wer mischt die Karten in diesem Schicksalsspiel und der Lotterie des Lebens, sorgt für Hauptgewinn und Nieten oder dass ich morgen salmonellenvergiftet verende, mich verliebe, 100.000 Euro gewinne, aus der S-Bahn gestoßen werde oder meine Straßenbahn entgleist?
Eigentlich denke ich, ist das Leben eine Zufallskette, nimmt urplötzlich ihren Anfang, der stets auch der Anfang eines jähen Endes ist. Hilflos kannst du eh nur wie ein atomares Teilchen durch den Zeitraum hüpfen bis zum Zerfall, hier und da gelegentlich zusammenstoBen, manchmal im Ergebnis eine Kettenreaktion, manchmal auch ein GAU. Großer Gott, eigentlich ist alles Zufall, der liebe Gott wahrscheinlich auch.
R u m m s, liege ich plötzlich; auf der Nase, gestolpert Ober ein zugewachsenes Abstellgleis, neben einem verrotteten alten Schuppen, den ich noch nie beachtet habe.
Z W L– EINTRITTVERBOTEN. LEBENSGEFAHR! WEICHENSTELLWERK
warnt ein rostiges Türschild. Gucken oder nicht, ist jetzt die Frage. lch denke mir, das ist keine existentielle Entscheidung und sage: Ja.
Im Dunkeln taste ich an feuchten Wanden entlang, trete durch Pfützen und stinkenden Modder und folge undefinierbaren Geräuschen, es klickt und klackt immer lauter, wie tausend kleine summende Relais-Schalter auf einem alten Telegrafenamt. Tssss, bitsch, tsss, klack, klack, klack, tssss, tssss, klack, klackklack, tsss.
Nur Fledermäuse, Ratten oder Skelette fehlen noch für die Gruselatmosphäre, da erspähe ich einen schummrigen Lichtspalt hinter einer massiven, angelehnten Tür. Öffnen oder nicht, wieder schlucke ich und entscheide: Ja.
Quietschend öffnet sich die durchgerostete Eisentor, dahinter geht es eine muffige endlose Wendeltreppe hinab oder hinauf, ich kann es irgendwann nicht mehr unterscheiden, zu sehr betören diese Geräusche die Sinne, Tsss, bisch, tsss, klack, klack, klack, tsss, tsss…
Plötzlich stoße ich gegen einen schweren halbzerfaserten und verspinnwebten·Stoff, einen schweren Vorhang, den ich beiseite schiebe und meine Augen erstarren: Zigtausendfaches Rattem erfullt die Luft, in flackerndem Dämmerlicht öffnet sich eine kathedralengroße Halle, über und übervoll mit Minimonitoren und Schaltkästen bis zur Decke gestopft, ein Weichenhebelchen neben dem anderen. Milliarden davon! Und links und rechts Verbindungstunnel zu weiteren solcher Kathedralen, zugebaut erneut mit Abermillionen ja Milliarden solcher Fernseh-Monitore, Knöpfe und Hebel.
Auf jeder Mattscheibe bewegt sich was: Massen von Menschen, aber auf jedem Bildschirm einer besonders markiert. lch greife den größten Hebel, wie einen Joystick vor einem dieser Monitore und probiere die Schalter daran aus. Bsssssch, macht es, eine Zoomoptik setzt sich in Gang, und ich erkenne die markierte Gestalt. Ein Wurstverkäufer mit tragbarem Würstchengrill. Auf zum Joystick vor dem nächsten Monitor, die gleiche Masse Mensch – Zoom, bssssch eine junge Fahrradfahrerin! Versehentlich schwenke ich den Hebel nach links, die Fahrradfahrerin biegt nach links, ich drücke den Knopf hinten am Hebel – sie beschleunigt, rast auf die Gestalt zu, die ich vom anderen Monitor kenne, den Wurstverkäufer, und bevor ich begreife fährt sie ihn mit voller Wucht um, bingo leuchtet er auf und wie im Schnelllauf läuft die Lebensgeschichte des Mannes rückwärts über den Video-Schirm, dann ein Schwarzbild und schwupp – ein ganz neuer Film nimmt seinen Lauf.
Im Bild ein Kreißsaal, wieder ein markiertes Wesen, ich zoome heran, ein Baby, dessen – jetzt begreife ich’s – Schicksal mit diesem Hebel verbunden ist, in meiner Hand. lch schwenke den Hebel im Kreis, das Baby dreht sich, schwenke hin und her, das Baby wackelt in seinem Brutkasten, fallt um ein Haar heraus. Ohgott, geht Schicksalsspiel nicht auch im Guten? lch teste lieber den nächsten Monitor, ein junges Mädchen steht auf dem U-Bahnsteig, überlegt, wohin? Zielgerichtet nehme ich den Hebel lenke sie in den mittleren Wagen des nächstbesten Zugs und platziere sie genau gegenüber einem Bodybuilder. Ein kleines Knöpfchen lässt sie Augenzwinkern, Zwinker, Zwinker, aber nichts wirkt. Wo ist bloß der Schalter für den Bodybuilder? Zehn, elf Monitore probiere ich, dann lande ich einen Zufallstreffer, yeahh, ich hab ihn. Gerade will er aufstehen, da stoppe ich ihn mit Hebelkraft. Sitzenbleiben. Zwinker, Zwinker, beide lachen sich an, er und das Mädchen und hauchen sich ein Küsschen zu, boaaaah, ich habe einen glücklichen Moment auf der Welt geschaffen!
Doch da erhebt sich ein Typ neben dem Mädchen, knallt dem Bodybuilder eine, ohgott ihr Freund, das hab ich nicht bedacht. So ein Ekel! lch nehme den Hebel vom Bodybuilder. Drücke zweimal obendrauf, peng, peng, haut der zu, der Freund sackt zusammen, irgendwo drei Monitore weiter läuft – bingo – dessen Film zurück·, wird die Mattscheibe schwarz und fängt mit einer neuen Lebensgeschichte an, während auf dem Bildschirm des Bodybuilders Polizei aufläuft und ihn verhaftet.
Ohgott, lieber lasse ich die Finger von solchen Schicksals-Hebeln, Leben im Negativen zu beeinflussen, scheint ungeheuer leicht und im Guten zu schwierig zu sein. lch schleiche weiter durch diese riesigen Hallen und allmählich dämmert mir, wo ich bin. Stand da nicht Z W L – Weichenstellwerk? – Das Zentrale Weichenstellwerk des Lebens, das muss es sein!
Aber wer soll so viele Weichen stellen können? Wer hier herrscht, muss göttlich sein oder eine diabolische, sadistische Macht. Ist Leben an sich ein teuflisches Werk?
Plötzlich erblicke ich eine riesige Blackbox worin es unaufhörlich surrt und brummt. Hier werden ganz offensichtlich vollautomatisch nach einem Zufallsprinzip Weichenstellungen herbeigeführt, Menschen überraschend zusammengeführt, sich liebend, sich rempelnd oder bekriegend, in Freude oder Elend getrieben, eine Art Zufallsgenerator des Schicksals, eine globale trouble-box, ejn Hypergott Typ Apple oder IBM.
Rundherum mit all den Einzelfallschaltern lassen sich, so merke ich, separat lndividual-Schicksale steuern, wer auch immer seine Freude daran hat.
Yeah, ist der Mensch im Grunde gut oder schlecht? Jetzt erkenne ich meine Chance. Jetzt kann ich endlich die ins Unglück steuern, die ich eh nicht leiden kann und meinen Freunden Glück bescheren, denke ich, da erblicke ich eine riesige Schalttafel mit Aufschrift ,,globale Einflussfaktoren“. Hier gibt es Schieberegler um die Erdtemperatur zu erhöhen, Earthquake-Knöpfe oder einen Reg!er mit Markierung ,,Wirbelsturm“. Das Leben als Videospiel. Ich entscheide mich spontan für einen Vulkanausbruch auf Sizilien, der mit einem Schlag Italiens Mafiaprobleme löst und mein Lustgefühl steigert. Und über Moskau lasse ich stolz einen – sage ich mal zu meiner eigenen Beruhigung – friedensstiftenden Meteoriten auf den Kreml niedergehen.
Komisch, denke ich, hier kann ich Herrscher der Welt werden, ist ja sonst keiner da. Vollbegeistert stürze ich nun von Hebel zu Hebel und damit etliche Leute ins Unglück. Einen grimmigen Rentner, der immer nur Kinder anmeckert, lasse ich auf der Rolltreppe stolpern, eine megaunfreundliche Busfahrerin einen Unfall bauen, einen garstigen Impfgegner an Covid krepieren und einen voyeuristischen Fensterputzer am Fernsehturm das Gleichgewicht verlieren. Boaaah, verführerisch einfach ist es, ein Bitterböser zu sein, bingo, bingo, bingo, immer mehr Lebensvideoprogramme laufen an ihren Anfang zurück. In eine Suchmaschine !assen sich Namen eingeben, Monitore leuchten auf und gezielt !assen sich nun ausgewählte Schicksale lenken, ich verrate an dieser Stelle lieber nicht welche ich wie zum Ende bringe. Aber jedes Mal lache ich grausig, triumphierend und fürchterlich.
Da entdecke ich eine, etwas anders als die·anderen, markierte Figur.
In einer flimmernden Masse, betätige den Zoom, komme näher und näher heran, die Figur steht mit dem Rücken zur Kamera, vor einer riesigen Monitorwand und drückt begeistert Schalter und Knöpfe – doch ist plötzlich wie gelähmt. lch zittere mit dem Joystick und zittere plötzlich selbst, ich will den Hebel loslassen, aber es geht nicht, traue mich nicht zu bewegen, aber werde bewegt. Und mir ist, als höre ich ein grausiges Lachen, triumphierend und fürchterlich.
Was ich noch wahrnehme, ist mein Weg langsam rückwärts zurück durch diese Kathedralen, immer schneller und schneller, zurück durch den schweren Vorhang und über die muffige Wendeltreppe und mit immer rasenderem Tempo meinen Weg über Gleise und Weichen entlang blitzartig durch mein ganzes rasantes Leben hin zum Anfang, zur Geburt, bis mir – bingo –schwarz vor Augen wird.
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